Projekte der Numerik

Ich bin in erster Linie Ingenieur. Numerik und Algorithmik bilden einen Schwerpunkt des Ingenieurwesens. Seit der Ausbildung an der Hochschule INSA in Lyon (Frankreich) habe ich mich immer wieder mit der Anwendung und Implementierung von numerischen Verfahren beschäftigt.

  1. Charakterisierung von Entwässerungsnetzen

    1. Diplomarbeit
      Im fünften Jahr des Ingenieuristudiums schrieb ich - zusammen mit einem Kommilitonen P. Lang - die Diplomarbeit Structure des réseaux d'assainissement (aide à la modélisation du ruissellement) INSA-Lyon , betreut von S. Thibault im Labor Méthodes der Fakultät Bauwesen und Stadtplanung. Unmittelbares Ziel der Arbeit war es zu prüfen, ob der Begriff der Fraktalen Dimension zur Charakterisierung von Kanalnetzen anwendbar ist und, wenn ja, welche Typisierung sich daraus ablesen ließe. Auf lange Sicht ging es darum, dieses Merkmal, wenn anwendbar, in die Definition von holistischen Modellen des Oberflachenabflusses und Transports zu integrieren.

      Weiterführende Ergebnisse dazu wurden von Prof. S. Thibault veröffentlicht worden - vgl. Principaux Résultats, Thèse de doctorat d'état (auf Französisch).

  2. Charakterisierung des Niederschlags

    1. Dissertation (Projekt Computersystem zur Aufbereitung von Regendaten)

      Nach dem Studium schrieb ich die Doktorarbeit Elaboration d'un système d' exploitation de données pluie im selben Labor Méthodes. Ziel der Arbeit war die Aufstellung eines Computersystems zur Speicherung und Auswertung von Regenmessungen. Das Messnetz setzte sich aus Regenmessern zusammen, die Ganglinien von Regenhöhen in mm/h aufnahmen, sobald es regnete. Die Daten wurden vor Ort regelmäßig - ca. einmal im Monat - abgelesen. Neben üblichen statistischen Verfahren zur Charakterisierung des Regens (Punktuelle Betrachtung) ging es auch darum, das Phänomen zwei dimensional (auf dem Einzugsgebiet der "Communauté Urbaine de Lyon") zu erfassen: Mehrdimensionale Approximationsmethoden wurden angewandt.

      Die verwendeten Berechnungsmethoden haben einen großen Nachteil, da der 5-minütige Zeitraster noch zu grob ist. Ohne Zusatzinformation können sie dem chaotischen Charakter der Regendynamik (Entstehung und Vergehen von Regenzellen) nicht Rechnung tragen. (Zum Zeitpunkt der Untersuchung standen im Großraum Lyon (COURLY) keine Radardaten zur Verfügung.)

      Das Forschungsteam um B. Chocat, S. Thibault entwickelte damals Simulationsmodelle vom Oberflächen- Abfluss und Transport, welche unterschiedliche Ansätze heranzogen (hydraulisch / physikalisch (SERAIL) oder holistisch / konzeptuell (CEDRE). Zumindest formal lieferten die berechneten Niederschlagsfelder geeignete Eingangsgrößen dafür.

    2. Mustererkennung zur Auswertung von Radardaten

      Unmittelbar nach der Dissertation konnte ich im Projekt Steuerung eines Mischwasserkanals in Seine-Saint-Denis weitere Erkenntnisse zur Erfassung der Regenfelder gewinnen. G. Jacquet aus dem Labor CERGRENE (Paris, Frankreich) leitete die Untersuchung. Parallel zum Regenmesser-Netzwerk wurden - entscheidende Neuigkeit - Radardaten herangezogen. Beide Daten wurden online dem Leitsystem in Saint-Denis zugeführt. Im Rahmen dieses Projektes implementierte ich Algorithmen zur Erfassung der Radardaten und Synchronisation mit den Regenmessern weiter. Ziel war es, die ermittelten Niederschlagsfelder in eine kurzzeitige Prognose einfließen zu lassen, damit Operateure rechtzeitig geeignete Maßnahmen einleiten - z.B. Warnungen bei drohender Überflutung.

  3. Numerische Simulation und Steuerung von Kanalnetzen

    Im Bereich der Wasserwirtschaft (Water Management) arbeiteten Ende der 1980er Jahre CERGRENE und IfW zusammen. Im Rahmen eines gemeinsamen Projektes übersiedelte ich nach Deutschland. Im Zeitraum 1987 bis 2000 beschäftigte ich mich schwerpunktmäßig mit Themen um die Numerik und Algorithmik im Bereich der Wasserwirtschaft.

    • Von 02.1987 bis 11.1992 war ich an Forschungsprojekten der Uni. Hannover (IfW, Prof. F. Sieker) beteiligt.
    • Von 02.1994 bis 12.1998 arbeitete ich an der Technischen Universität München (LWA, Prof. P. Wilderer).

    1. Wissensbasierte Systeme zur Steuerung von Kanalnetzen
      Es wurden Inferenzmotoren zur Auswertung von Regeln (z.B. für die Steuerung von Pumpen im Zulauf von Becken) programmiert bzw. weiterentwickeln, wobei verschiedene Ansätze ausprobiert wurden (vorwärts, rückwärts oder gemischte Verkettungsverfahren).

      Anläßlich dieser Projekte wurden Lernalgorithmen zur Verbesserung der Wissensbasis untersucht und u.A. folgende Ergebnisse veröffentlicht:

    2. Optimierungsverfahren zur Kanalnetzsteuerung
      Am IfW untersuchten zuerst W. Schilling und M. Semke die Anwendung von Optimierungsverfahren zur Steuerung von Kanalnetzen - vgl. die Diplomarbeit von M. Semke (Fach Mathematik, 1984, Deutsch). Nach der Berufung von W. Schilling nach Trondheim, Norwegen (NTNU) 1988 übernahm ich einen Teil seiner Forschungsthemen.

      In Zusammenarbeit mit den Instituten für Informatik und Mathematik der Universität Hannover wurden verschiedene Untersuchungen in Bezug auf die Optimierung von Kanalnetz-Steuerung durchgeführt und u.A. folgende Ergebnisse veröffentlicht:

      Eine Herausforderung besteht darin, das Entwässerungssystem so zu vereinfachen, dass verfügbare Optimierungsverfahren realitätsnah greifen. Vorgehensweisen zur Bewertung dieser prinzipiellen Einschränkung wurden in parallelen Projekten erarbeitet - siehe z.B. das Projekt Quantifizierung der Unsicherheiten von Regenabfluss-Berechnungsmodellen oder auch das Kapitel Kalibrierung unten.

      Zu meinem Bedauern wurde die Anwendung von Optimierungsverfahren in Entwässerungsabteilungen, mit denen ein Kontakt bestand, verhindert:

      • Abwasserverbände standen der Implementierung von Verfahren skeptisch gegenüber, die ihre Erfahrung in unverständlicher (mathematischer) Sprache übertrugen.
      • Auch war die Rechenkapazität noch unzureichend: Berechnungsprogramme hätten online keine Ergebnisse rechtzeitig liefern können.

      Heute dürften die Bedingungen für eine Umsetzung deutlich günstiger sein.

    3. Numerische Modelle zur Simulation des Oberflächen-Abflusses und Kanal-Transports
      In diesem Abschnitt geht es um die Analyse, Bewertung, Implementierung von Ansätzen zur Berechnung des Mischwasserabflusses an der Oberfläche und in der Kanalisation. Anbei Untersuchungen, an denen ich maßgeblich beteiligt war:

      • Im Rahmen des Forschungsvorhabens Quantifizierung der Unsicherheiten von Regenabfluss-Berechnungsmodellen (SI 242/7-2) im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wurde eine Vielzahl von numerischen Ansätzen zur Abflussberechnung programmiert, untersucht, verglichen - im Hinblick auf Genauigkeit und Fortpflanzung von Unsicherheiten.

        Verbunden mit Fragestellungen des Forschungsvorhabens sei eine spezielle Untersuchung erwähnt: Der Vergleich der Ergebnisse zwischen einem hydrodynamischen Ansatz (EXTRAN) und einem konzeptuellen Modell (KMROUT) zur Berechnung des Abflusstransports. KMROUT wurde soweit erweitert, dass es auch die überstaute Kanalisation simulieren konnte (siehe auch dazu die Diplomarbeit von M. Siekmann ).

      • Die numerische Lösung des Saint-Venant-Gleichungssystems lieferte den Anlass zu einer weiteren Untersuchung.

        Der Berechnungskern vom Programm-Modul EXTRAN, das am IfW zur Berechnung des Abflusstransports intensiv eingesetzt wurde, basiert auf einem expliziten Lösungsverfahren. Es wird numerisch instabil, wenn der Lösungszeitschritt (δt) eine Grenze übersteigt. Implizite Lösungsverfahren sind dagegen stabil - wobei das Ergebnis auch verfälscht wird, wenn δt zu grob gewählt wird.

        Ich habe daher ein implizites Lösungsverfahren zur Lösung des Saint-Venant-Gleichungssystems programmiert, IMTRAN. Das IMTRAN Prototyp wurde eingehend mit EXTRAN verglichen - vgl. dazu die Diplomarbeit von V. Huhn. Darauf wurde IMTRAN verbessert, bis seine Handhabung einem Planungsingenieur zuzumuten war.

      • Aus Sicht der Modellierung basiert der Teil II vom BMBF-Forschungsvorhaben 523-4002-02WA9374, den ich als Mitarbeiter des LWA (TU München) übernahm - zum Großteil auf Erkenntnissen aus dem DFG-Projekt SI 241/7-2. Folgende Merkmale der numerischen Modelle für den Regenwasser- Oberflächen-Abfluss und -Transport wurden untersucht:

        • Robust, flexibel, schnell und genau genug sollten sie sein, um eine realistische Vorhersage des Zustandes an kritischen Stellen des Mischwasserkanals unter Regenbelastung zu ermitteln. Dabei war es wichtig, Unterschiede zwischen detaillierter und holistischer Betrachtung der Einzugsgebiete korrekt einzuschätzen.
        • Ein weiterer Schwerpunkt der Bearbeitung war die Kalibrierung solcher in Frage kommenden Modelle.

        Im Projekt Online Simulation des Mischwasserkanals, im Auftrag des AOI, schrieb ich die Simulation-Software: eine offline Version (HYDROSIM) und eine online Version (PREDICT). Eingangsdaten und Modellparameter wurden aus dem vorherigen Forschungsprojekt 523-4002-02WA9374/7 übernommen.

  4. Kalibrierung

    1. Was ist Kalibration?

      Allgemein formuliert kommt eine Kalibrierung in Frage, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:

      • Es liegt ein Modell vor d.h. irgend ein Ding, ein System, das durch sein Verhalten identifiziert wird: Es reagiert auf Einflüsse (den Input) auf eigentümliche Art und Weise, liefert ein Ergebnis (den Output), das beobachtet, vorhergesagt (und im Idealfall sogar bestimmt) werden kann. Jedes Paar Input-Output wird Ereignis genannt.
      • Die Reaktion des Modells hängt von Parametern ab, die unabhängig vom Input definiert werden, und somit etwas Wesentliches über das beobachtete Ding verraten, es charakterisieren.
      • Ein Soll-Verhalten des Modells kann zumindest für eine Untermenge der Einflüsse - der Inputs - bestimmt werden.

      Ziel der Kalibrierung ist es, diese Parameter so zu bestimmen, dass das Ist-Verhalten insgesamt möglichst nah das Soll-Verhalten widerspiegelt. Aus dieser Formulierung lassen sich folgende Prämissen ablesen:

      1. Das Verhalten des Modells lässt sich anhand einer endlichen - meist kleinen - Zahl von Parametern bestimmen.
      2. Die 'optimalen' Parameter lassen sich anhand einer endlichen Zahl von Ereignissen bestimmen, meist viel kleiner als die Zahl der potentiellen Ereignissen.

      Das Modell - das beobachtete Ding oder System - kann z.B. eine Maschine sein, an deren Schrauben (die Parameter) gedreht wird, um ihre Handhabung zu verbessern. Ich beschäftige mich ausschließlich mit numerischen Modellen: Das "Ding" wird von mathematischen Gleichungen definiert - wobei die Gleichungen unterschiedlich geartet sind.

    2. Kalibration in der Wasserwirtschaft

      In der Wasserwirtschaft beschäftigte ich mich schwerpunktmäßig mit Modellen zur Berechnung des Oberflächenabflusses und Transportes in städtischen Entwässerungssystemen. Ein Kalibrationsproblem lässt sich unterschiedlich formulieren. Hier Beispiele:

      1. Formulierung: Ergebnisse eines Berechnungsmodelles mit Messungen (Wasserstand, Abfluss) an kritischen Punkten des Kanalnetzes - z.B. Rückhaltebecken, Gebietsauslass - in Übereinstimmung bringen. (Anm.: Es wird angenommen, dass wenn 'beobachtete Ereignisse' an solchen Punkten korrekt nachgebildet werden, auch 'künftige Ereignisse' auf der gleichen Basis korrekt vorhergesagt werden.)

      2. Formulierung: Komplexe Modelle in einfachere zu überführen - siehe, aus der chronologischen Tabelle, die Projekte 12 und 06.
        Die Fragestellung ist verschoben: Berechnungsergebnisse von "komplexeren" Modelle gelten als nachzubildende Realität (anstatt "echter" Messdaten).

      Woher entsteht die Komplexität?

      1. Anzahl der zusammengesetzten Elemente des Kanalsystems:
        Wird jeder Schacht womöglich explizit berücksichtigt? Das Kanalnetz einer kleinen Stadt besteht in diesem Fall aus vielen tausenden Elementen, die jeweils mit wenigen anderen verbunden sind. (Mathematisch ausgedrückt ist die Verbindungsmatrix groß und dünnbesetzt)

      2. Mathematische Darstellung der Wechselwirkungen zwischen einzelnen Elementen des Kanalsystems:
        Das aufwendigste Gleichungssystem, das in den genannten Projekten herangezogen wurde, ist das Saint-Venant-Gleichungssystem - auch hydrodynamische Berechnung genannt.

      Der Vorteil von einfachen Modellen ist ihre Übersichtlichkeit und die leichte Handhabung: Sie berücksichtigen möglichst nur kritische Punkte des Systems. Damit verbunden ist die vergleichsweise geringe Rechenzeit zur Berechnung eines Ereignisses.

      Die Nachteile von einfachen Modellen entstehen aus dem Informationsverlust gegenüber detaillierten hydrodynamischen Modellen - die als Realitätsersatz fungieren: Einfache Modelle können beobachtete Ereignisse nicht so treu nachbilden.

      In diesem Zusammenhang soll die Kalibrierung, stets das Beste aus einem (vereinfachten) Modell holen - wobei zu klären ist, was das Beste sei: Unterschiedliche Definitionen des Optimums führen i.d.R. zu unterschiedlichen Parameterwerten.

      Optimierungsverfahren

      Ein möglicher Weg die Kalibrierungsaufgabe zu stellen ist, sie so zu formulieren, dass mathematische Optimierungsverfahren greifen.
      Ein Nebenprodukt solcher Vorgehensweise ist die Notwendigkeit darüber nachzudenken, wie der Fehler, die Abweichung zwischen Sollwert - dem gemessenen oder sonst ermittelten wahren Wert - und dem Istwert - dem Modellergebnis - zu berechnen sei. Der Modellfehler lässt sich aus einer Vielzahl von Größen ableiten lässt (siehe auch Pareto Menge). Die meisten Berechungsverfahren verlangen aber, diese Mehrdimensionalität mit Hilfe einer - wie auch gearteten - Gewichtung der einzelnen Fehlergrößen aufzulösen.

      Am IfW haben u.a. D. Grothehusmann und S. Deyda auf dieser Grundlage Untersuchungen durchgeführt - vgl. dazu die Diplomarbeit von S. Deyda (Fach Mathematik, 1991, Deutsch).

      Nutzung vom Ingenieurwissen

      Ich verfolgte einen anderen Ansatz, der darauf basiert, die Vorgehensweise eines erfahrenen Ingenieurs in solchem Fall zu reflektieren. Dabei bedient er sich seiner Erfahrung, um sogenannte Kalibrationsgrößen zu ermitteln, die Rückschlüsse auf die zu suchenden Parameterwerte ermöglichen.

      • Eine Wissensbasis - in Form von Regeln - wird formuliert, die für das Zielmodell geeignete Kalibrationsgrößen insziniert.
      • Berechnungsprogramme werden geschrieben, die aus der detaillierten Kanalnetzbeschreibung die identifizierten Kalibrationsgrößen abschätzen.

      Dieser Lösungsweg wurde u.a. unter Anwendung einer Software namens VPX umgesetzt, mit der die Regelbasis einfach zu schreiben war. Vorläufiger Abschluss dieser Versuche ist im Bericht Kalibrierung von HYSRAD-EXTRAN mit einem XPS zusammengefasst. (Anzumerken ist auch, dass die Versuche aus der detaillierten Kanalnetzbeschreibung Modell- und Kalibrations-Größen für holistische bzw. konzeptuelle Modelle zu extrahieren, sehr fruchtbar wurden. In gewisser Weise hängen sie mit Bestrebungen zusammen, das Kanalnetz topologisch zu charakterisieren - wie z.B. in meiner Diplomarbeit dargelegt.)

    3. Kalibration des medizinischen Messgerätes Multiplate© Analyzer (vgl. auch Projekt zur Kalibrierung des Multiplate)

      In der Kurzbeschreibung "Kalibrierung vom Multiplate" liegt das Augenmerk auf 'äußere' Randbedingungen: Wie die Kalibrierungsaufgabe aus Sicht des Anwenders umgesetzt wurde. Wenig wurde über das Innere des Kalibrierungsvorgangs preisgegeben. Um ein inhaltliches Verständnis der Kalibrierungsaufgabe (die Sicht des Entwicklers) zu erreichen, müssen folgende Fragen beantwortet werden:

      1. Was soll gemessen werden?
        Eine Impedanz = ein komplexer Wert = (Wirkwiderstand, Blindwiderstand)

      2. Was wird genau gemessen?
        Der reale Wert der Impedanz bzw. der Wirkwiderstand (die Phasenverschiebung geht verloren)

      3. In welchem Zusammenhang steht das gemessene Ergebnis (die Ganglinie, die der Anwender sieht) mit dem Ist- Gemessenen?
        Der 'Multiplate-Wert' ist eine Umrechnung (lineare Transformation) des gemessenen Impedanz-Wertes - um das Ergebnis innerhalb eines definierten Bereiches festzulegen - Bereich der mehr oder weniger willkürlich bestimmt wurde.

      4. Woher kommen Abweichungen bzw. Unsicherheiten der Messung?
        Das Verhalten der einzelnen Komponenten eines jeden Messkanals ist nur innerhalb einer vom Hersteller vorgegebenen Toleranz definiert. Schon bei einer kleinen Zahl von Komponenten wird es schwierig das Zusammenwirken aller Elemente einer Schaltung analytisch zu ermitteln.

      5. Welche mathematische Verfahren stehen zur Verfügung, um die Messunsicherheit zu verringern?
        Der Ansatz, der zunächst in den Sinn kommt, ist im Prinzip einfach: Dafür zu sorgen, dass für eine Reihe von bekannten Impedanzwerten, die den Messbereich abdecken, die Abweichungen zwischen 'wahren' und 'gemessenen' Werten möglichst klein sind.

      Der eben erwähnte Kalibrierungsansatz nenne ich pragmatisch: Das zugrundeliegende mathematische Verfahren entspricht lediglich der Bestimmung einer Kennlinie - ohne jegliche Erklärung, wie die Werte zustande kommen. Zur Bestimmung der Kennlinie stehen wiederum etliche Verfahren zur Wahl, je nach Aufteilung des Messbereiches und Wahl der Approximationsfunktion. In diesem Projekt wurde die Korrekturfunktion als 'stückweise linear' definiert - auch Mehrpunkt-Korrektur-Verfahren genannt.

      Solches Verfahren ist trotz der relativ Einfachheit wirksam, wenn die Abweichungen der Messelektronik als 'zufällig' betrachtet werden können. Kommt jedoch eine systematische Abweichung hinzu, wird die Sache deutlich komplexer? In diesem Projekt wurde aufgrund der verbesserten Kalibrierung eine thermische Verschiebung der Messelektronik sichtbar - die nicht ausgeglichen werden konnte. (Die Lösung bestand darin, bestimmte Komponente der Elektronik zu wechseln).

      Eigentlich interessiert sich der Arzt, dem diese Messung helfen soll, nicht für einzelne Impedanzwerte - wenn er überhaupt mit diesem Begriff etwas anfangen kann. Ihn interessiert das Phänomen Thromzyten-Aktivität im präparierten Vollblut. Dieses Phänomen unterliegt innerhalb der Messdauer einer Evolution, die anhand von mathematischen Wachstummodellen beschrieben werden kann. Möglicherweise sind einzelne Parameter des Wachstumsmodells medizinisch relevant. Daher sollten anstatt von pragmatischen Ansätzen eher konzeptuelle Ansätze für die Kalibrierung herangezogen werden - die medizinisch relevante Größen artikulieren.

      Durch den Sprung in die Modellierung wird das Kalibrierungsproblem - ob in der Wasserwirtschaft oder in der Medizintechnik - ähnlich gelagert. Bezogen auf die Software-Implementierung besteht fortan die Herausforderung darin, einen Rahmen zu schaffen, der mit möglichst vielen Ansätzen zurecht komme. Wie soll die Software-Architektur aussehen, um möglichst flexibel Messdaten und Kalibrationsdaten zu handhaben? (Wenn ich die Zeit finde, werde ich die von mir implementierte C++-Lösung beschreiben - und den 'abstrahierten' Quelltext offenlegen.)

    4. Kalibration in der Automobilindustrie (vgl. Eckdaten des AGS-Projektes)

      Anm.: Ich habe bisher kein Steuergerät 'kalibriert'. Es lohnt sich dennoch, ein Kapitel dem Thema zu widmen, weil in der Automobilindustrie der Begriff 'Kalibration' in einem anderen Zusammenhang verwendet wird, als in vorherigen Kapiteln.

      Auf einem Steuergerät - z.B. dem EGS - wird eine Software geflasht: Sie bestimmt das Verhalten eines Teils des Fahrzeuges - z.B. des Getriebes. Die Softwarevariablen (Modellgrößen) gehören 2 Typen an:

      • Die Messgrößen (sogenannte Messungen):
        Sie entsprechen den Zustandsdaten: Z.B. ist die Fahrgeschwindigkeit (V_FZG) eine solche Meßgröße. Während der Simulation eines Softwarestandes im Steuergerät - am HiL oder sogar im Testauto - können Meßgrößen gelesen, aber nie überschrieben werden. (Mit anderen Worten ist es nicht möglich, die Variable V_FZG Fahrzeug on-the-fly zu bestimmen).

      • Die Verstellgrößen (sogenannte "Kalibrationsgrößen"):
        Sie entsprechen den Modellparametern d.h. sie bestimmen, wie sich das Fahrzeug verhält. Während einer Simulation können Verstellgrößen im Steuergerät gelesen und auch - vorausgesetzt das Fahrzeug stillsteht - überschrieben werden. Meist werden Verstellgrößen in Form von Kurven oder Tabellen dargestellt, die einen funktionalen Zusammenhang zwischen zwei oder drei Größen ausdrücken.

      Es ist Aufgabe der Applikateure, die Verstelldaten eines Steuergerätes so zu bestimmen, dass sich ein optimales Verhalten des Fahrzeuges einstellt: Dieser Vorgang nennt man Kalibration. Das Gros der zugehörigen Wissensbasis steckt bisher noch im Kopf der Applikateure: Noch sind zu wenig festgeschriebene (numerische) Merkmale des Sollverhaltens den (Test-)Entwicklern zugänglich, um eine vollständige Testabdeckung im Simulationsmodus (HiL bzw. SiL) zu gewährleisten.