Der Philosoph Iljin und die Geister, die er ruft

  1. Anlass und Warnung

    Die Gedanken unten sind unmittelbar nach Lektüre eines Beitrages aus der Zeitung Die Zeit entstanden, welcher darstellt, wie Ideen des Philosophen Iwan Iljin das politische (und militärische) Handeln des russischen Autokraten Vladimir Putin in Bezug auf die Ukraine beeinflussen könnte. Hier die Quellen:

    An dieser Stelle will ich darauf hinzuweisen, dass der Krieg in der Ukraine vom Zusammenwirken etlicher Faktoren und Akteure ausgelöst wurde und weiterhin beeinflusst wird - deren jeweilige Tragweite sich derzeit nur bruchstückhaft erschließt. Die nachstehenden Überlegungen zur Instrumentalisierung des Narratives eines Intellektuellen (Iwan Iljin) um politisches und militärisches Handeln zu rechtfertigen, sind zwar ein Schlüssel zum besseren Verständnis der tragischen Situation. In keiner Weise sind sie ausreichend, um das Geschehen mit der gebührlichen Tiefe zu durchleuchten. Dafür müssten weitere Aspekte berücksichtigt werden: Die wirtschaftlichen Zusammenhänge in Russland, der Ukraine und anderswo, das innenpolitische Machtgefüge in Russland und der Ukraine, das Vorgehen der Ukrainischen Regierung und der externen Mächte, insbesondere der militärischen Allianz Wikipedia: NATO.

    Die Nachricht der russischen Invasion bedingte zunächst bei mir ratloses Kopfschütteln. So etwas Verrücktes. Zum ersten Mal seit langem gibt es einen Krieg auf dem europäischen Kontinent, mit dem Potential, einen Flächenbrand ungeahnten Ausmasses auszulösen. Nun weicht das initiale Gefühl der Hilflosigkeit dem Willen zu verstehen, was ja so gefährlich vor unseren Augen geschieht. Die schriftliche Klärung einiger Überlegungen hilft mir dabei sehr. Auch müssen wir, Bürger dieser Welt, auf alle Akteure einwirken, um dieses Blutbad möglichst schnell zu stoppen. Dabei ist es wichtig, kriegerische Eskalationen zu vermeiden. Gleichzeitig dürfen sich die Kriegstreiber aus ihrem Tun keinen Vorteil verschaffen, sondern einen erheblichen Nachteil kassieren.

  2. Die Überlegungen

    1. Zusammenfassung

      Selten sind Einzelpersonen bei Gewaltkonflikten - wie aktuell in der Ukraine - allein verantwortlich. Vielmehr wirken Denkschablone, deren sich involvierte Machtgefüge bedienen. Um so dringender gilt es, solche Denkmuster zu hinterfragen und auseinanderzulegen, wenn das Leben von vielen Menschen auf dem Spiel steht.

    2. Ideologien des Imperialen

      Im Russland des 19. und 20. Jahrhunderts träumte eine Reihe von "Philosophen und Dichtern" ein ziemlich totalitäres Bild des "Heiligen Russlands" herbei. Das russische Volk sei - so der "Schöpfungsplan" - zu Außergewöhnlichem berufen. Mindestziel sei es, die slawischen Völker zu ihrer endgültigen Bestimmung zu führen? Manche gingen in Ihrem Eifer sogar aufs Ganze: Warum denn nicht die gesamte - eurasische? weiße? - Menschheit retten? Der (vermutlich mittelmäßige) Iwan Iljin ist bei diesen gedanklichen Bestrebungen nur ein Beispiel unter etlichen. Sogar der Dichter von Weltrang Wikipedia: Fjodor Dostojevski hat Beiträge in dieser Richtung geliefert. Außerhalb der russischen Sphäre fand solches Eindringen des Eschatologischen ins Politische immer wieder statt. Originell sind solche Übertragungen einer "Heilsgeschichte" nicht. Jeder darf sich ein Beispiel aussuchen und auch feststellen, dass der Erfolg solcher Lehren durchwachsen ist.

      In der heutigen aufgeklärten Zeit werden meistens solche Stories nur mit einem müden Lächeln abgetan. Wie beliebige Verschwörungstheorien eben. Im Laufe der Geschichte haben sie viel Leid verursacht. Das von Gott gewollte (despotische) russische Reich wurde - wie andere Imperien auch - vielerorts über die Leichen von Menschen und Völkern aufgebaut. Mehrere kleine Völker aus dem Kaukasus wurden von den Armeen der Tsaren zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert weitgehend getilgt. Solches "Opfern" (solche Massaker) nahm man - nicht nur in Russland - leichtfertig im Namen des "höheren Gutes" hin: Dieser Philosoph, Iwan Iljin, hat lange Jahre in der Schweiz gelebt und war dort als "Philosoph von Rang" anerkannt. Heute - dank Putin - müssen sich die Abiturienten in Russland mit seinen Texten herumschlagen - wahrscheinlich unreflektiert.

      Im europäischen 19. und 20. Jahrhundert haben allerlei "Philosophen, Denker und Dichter" aus verschiedenen Ländern ähnliche Großreichfantasien auf Papier gebracht. England, Frankreich, Italien und - last but not least - Deutschland. Trotz aller Unterschiede - schließlich ging es darum, das eigene "Volk" bzw. die eigene "Kultur" über allen Maßen hervorzuheben -, überschneiden sich solche Narrative: Das zutiefst Menschenverachtende und Gewalt verherrlichende. Rassismus, Intoleranz, Unterdrückung von Frauen, sexuellen Minderheiten, anderen Hautfarben, anderen Religionen sind die Folgen. Die Liste ließe sich leicht erweitern. Auffallend ist wie ähnlich in formaler Sicht Begriffe wie "Gott", "Volk", "Nation", "Rasse" dekliniert werden. Wie Elemente eines sich immer wieder neu erfindenden Diskurses des Unmenschlichen und der Unterdrückung.

      Nicht allein die Regierung Wladimir Putins, die die Invasion unmittelbar befohlen hat, müsste sich verantworten, sondern Intellektuelle wie Iwan Iljin und seine geistigen Brüder und Helfer, die bereitwillig Stichworte und Legitimation liefern - siehe z.B. Wikipedia: Alexander Dugin bzw. Taz: Dugin, der russische Faschist
      Ob die Machthaber im Kreml persönlich an das Narrativ glauben, ist weniger relevant. Ich schließe nicht aus, dass bei dem heutigen Krieg die eiskalte Logik der Macht einzig und allein wirkt - wie seinerzeit unter der Stalinistischen Herrschaft.

      Ohne das Narrativ fehlt es einem autokratischen System unvergleichlich schwerer seine mörderische Gewalt zu entfalten. Der heutige Machthaber im Kreml instrumentalisiert die Lehren des Herrn Iwan Iljin, wie die Pamphlete des Väterchens der Völker, Josef Stalin, seinerzeit die marxianische Lehre bis zur Unkenntlichkeit karikierten.

    3. Was tun?

      Viel wichtiger als einzelne Personen zu Rechenschaft zu ziehen, gilt es, die im Hintergrund wirkenden politischen Denkmuster zu de-konstruieren. Dies wäre ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Entstehung eines demokratischen (und wohlhabenden) Russlands.
      Langfristig ist es ein grundlegendes europäisches Anliegen dem von Vladimir Putin und seinen Unterstützern herbeigesehnten Eurasischen Großreich ein Europäisches Friedensprojekt entgegenzusetzen.
      Auch ist Russland nicht die einzige Region, wo ein starkes demokratisches Europa - besser als andere Weltmächte - im Sinne des Friedens und des Wohlstandes wirken könnte...

    4. Nachwort

      Wahrscheinlich war Iwan Iljin - jenseits seiner Texte - ein vornehmer Herr mit tadellosem Benehmen und guten Tischmanieren. Ein "Aristokrat" eben. Der Traum einer jeden Schwiegermutter. Wie Herren in Deutschland die (des öfteren pöbelhaften) Nazis unterstützt haben, sogar Herren aus dem erlesenen Kreis der kaiserlichen Familie. Something was rotten... Something is rotten. Nicht nur heute im Osten des Europäischen Kontinents.

      Ist es nicht an der Zeit die politischen Theorien auf dem Prüfstand zu legen und ggf. Menschen verachtende Elemente zu entlarven - wo auch immer sie entdeckt werden.
      Die Frage mag plakativ sein, zu simpel. Ich gebe es zu. Für mittelmäßige Pamphletisten kann jeder schnell dahinterkommen - da es den Verfassern oft an Ehrlichkeit den Fakten gegenüber fehlt. Tatsache ist aber, dass sogar die größten Denker nicht vor Missbrauch gefeilt sind. Es fiele nicht schwer, Beispiele aneinanderzureihen - z.B. Marx, Nietzsche.

      • Warum verkommt derweil ein - für sich betrachtet - wunderbares Denkgebäude zur starren Ideologie mit unmenschlichen Auswirkungen?
      • Liegt das "wahre" Denken nicht ausserhalb der politischen Willkür?
      • Welche sind die Spielregeln des Denkens?
      • Wie sollen sie jedem Menschen zugänglich werden?

      Aus meiner Sicht ist die Suche nach triftigen Antworten auf diese Fragen eine grundlegende Aufgabe der heutigen Zeit. Um so mehr als die neuen Medien viele Möglichkeiten der De-Information bieten.